Blogbeitrag Das verschwindende Selbst: Digitale Bildkulturen als religionsanaloge Formationen

Sichtbarkeit ersetzt Innerlichkeit, das Bild ersetzt das Subjekt

Prof. Dr. Inken Prohl

veröffentlicht am 19.08.2025

Inken Prohl ist Religionswissenschaftlerin und Japanologin. Seit 2006 lehrt sie als Professorin für Religionswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die rezente Religionsgeschichte Deutschlands, Japans und der USA, Religion and Artificial Intelligence sowie Materiale Religion.

Digitale Technologien bestimmen nicht nur zunehmend, was wir sehen – sie verändern, wie wir uns selbst sehen. Besonders deutlich wird das im Umgang mit Bildern: Auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder BeReal entstehen visuelle Kulturen, die auf algorithmischen Systemen beruhen und affektive Bildformen in Umlauf bringen, verstärken und normieren. Gesichter, Körper und Gesten sind dabei nicht bloß Abbilder realer Personen, sondern Bestandteile eines Systems algorithmisch erzeugter Sichtbarkeit. Was sichtbar ist, wird belohnt – was gefällt, wird verstärkt. So entsteht eine visuelle Kultur, in der bestimmte ästhetische Codes dominieren, unabhängig davon, ob sie subjektiv empfunden oder sozial gewollt sind. Diese Bildwelten produzieren eine neue Form normativer Kontrolle: Sie schreiben nicht nur vor, was als schön, lebendig oder glaubwürdig gilt, sondern strukturieren auch das Verhältnis von innerem Erleben und äußerer Selbstdarstellung neu.

Für Frauen und Mädchen haben diese digitalen Bildwelten besondere Konsequenzen. Die britische Autorin Ellen Atlanta beschreibt in Pixel Flesh eindringlich, wie KI-gestützte Ästhetiken, Filter, Feed-Algorithmen und körperbezogene Schönheitspraktiken – etwa Hautpflege, Make-up oder ästhetische Eingriffe – zusammenspielen, um ein Bild von Weiblichkeit zu erzeugen, das normierend wirkt und affektiv aufgeladen ist (Atlanta 2024). Glow, Softness und Empowerment stehen für eine visuelle Sprache, die affektive Zustände nicht ausdrückt, sondern ästhetisch simuliert: Statt also zu zeigen, wie sich jemand fühlt, ästhetisieren die digitalen Bilder Gefühle, deren reale Grundlage ungewiss bleibt. Entscheidend ist nicht, ob das Gefühl empfunden wurde, sondern ob es in der richtigen Form sichtbar gemacht wird. Diese Entwicklung betrifft Fragen der Schönheit oder Selbstinszenierung, hat aber darüber hinaus weitreichende Folgen für das Verhältnis von innerem Erleben und äußerer Darstellung – ein Verhältnis, das kulturell verschieden gedacht und gelebt wird, in digitalen Bildkulturen jedoch in neue Bahnen gelenkt wird. Und genau hier setzt dieser Beitrag an. Die zentrale These ist, dass wir es mit einer disruptiven, anthropologischen Transformation zu tun haben, die unser kulturelles Verständnis des Selbst neu codiert. Dieses Selbst wird in diesem Beitrag nicht als feststehende innere Essenz verstanden, sondern als kulturell und medial formatiertes Verhältnis zur eigenen Person, das gegenwärtig durch digitale Bildkulturen strukturell verändert wird.

Vom moralisch eingebetteten zum expressiven Selbst

Die Vorstellung von der Existenz eines Selbst ist keine anthropologische Konstante, sondern ein historisch wandelbares und gesellschaftlich situiertes kulturelles Konstrukt. Der Philosoph Charles Taylor hat gezeigt, dass sich in der Neuzeit die Vorstellung herausgebildet hat, dass das wahre Selbst im Inneren des Individuums liegt. Das Innere wird als authentische Instanz moralischer Orientierung und emotionaler Wahrhaftigkeit aufgewertet – eine Vorstellung, die sich quer durch therapeutische, pädagogische und populärkulturelle Diskurse zieht. Die beschriebene Vorstellung prägt bis heute unser Verständnis davon, wer wir „wirklich“ sind – nämlich nicht das, was wir nach außen darstellen, sondern das, was wir empfinden. Während vormoderne Gesellschaften durch religiöse Ordnungen, soziale Rollen und übergeordnete Sinnsysteme strukturiert waren, richtet sich der Blick im modernen Denken zunehmend auf das Subjekt: Die angenommene innere Welt wird zur Quelle von Wahrheit, Moral und Identität erhoben (Taylor 1989). Diese Entwicklung – oft als „Expressivismus“ beschrieben – erhielt im 20. Jahrhundert neue Zuspitzungen. Der amerikanische Soziologe und Kulturtheoretiker Philip Rieff beschreibt das moderne Selbst als „therapeutisch“, also als kulturelle Formation, in der Individuen Sinn, Erfüllung und Orientierung nicht mehr aus äußeren Ordnungen beziehen, sondern in ihrem Inneren und in der ständigen Arbeit an sich selbst suchen (Rieff 1987). Auch Christopher Lasch diagnostiziert in The Culture of Narcissism eine Kultur, in der der Blick auf das eigene Ich zum zentralen Bezugspunkt wird – nicht aus Egoismus, sondern aus strukturellem Zwang zur Selbstoptimierung (Lasch 1979). Der Historiker Yuval Noah Harari wiederum bezeichnet den „Glauben ans Selbst“ als das prägende Narrativ des 21. Jahrhunderts (Harari 2017).

Die Vorstellung, dass das „wahre Selbst“ im Inneren verankert sei, bleibt dabei stets ambivalent: Einerseits eröffnet sie Räume für Autonomie und Abgrenzung; andererseits entsteht ein wachsender Druck, dieses innere Selbst sichtbar zu machen. Dieser Druck ist nicht nur individuell, sondern wird durch die Dynamiken der digitalen Welt wie Plattformlogiken, algorithmische Belohnungssysteme und kulturelle Ideale von Authentizität systematisch erzeugt. Genau an dieser Spannung setzen digitale Bildkulturen an. Sie transformieren das Verhältnis von Innen und Außen, indem sie affektives Verhalten und Selbstverhältnisse in visuelle, algorithmisch strukturierte Formen überführen. 

Der Religionssoziologe Paul Heelas beschreibt im Kontext des New-Age-Denkens ein „spirituelles Selbst“, das sich nicht mehr auf transzendente Instanzen bezieht, sondern auf das Gefühl innerer Stimmigkeit: Was als authentisch gilt, wird daran gemessen, ob es sich im Inneren „richtig“ anfühlt (Heelas 1996). Diese subjektive Erfahrung wird zur Quelle von Wahrheit, Bedeutung und Orientierung – und damit sakralisiert. Digitale Bildkulturen greifen diese Vorstellung auf, operationalisieren sie aber technisch: Das „richtige Gefühl“ muss heute visuell darstellbar, anschlussfähig und plattformkompatibel sein. Gewährleistet wird dies etwa mithilfe von Filtern, standardisierten Bildästhetiken oder Interaktionsformen, die bestimmte Emotionen kodieren und verstärken. 

In ihrem Buch Explosive Moderne (2024) beschreibt die Soziologin Eva Illouz, wie Emotionen in modernen Gesellschaften zur primären Orientierungsgröße werden: Gefühle gelten nicht länger nur als Begleiterscheinung des Handelns, sondern als dessen Grundlage – und gewinnen dadurch an sozialer Sprengkraft. Diese Diagnose knüpft an Illouz’ frühere Arbeiten an, in denen Emotionen nicht nur als innere Zustände, sondern als sozial strukturierte Ausdrucksformen verstanden werden. 

In digitalen Bildkulturen werden Emotionen nicht einfach „gezeigt“, sondern in Formate übersetzt, die kollektiv lesbar und anschlussfähig sind. Genau diese Lesbarkeit erzeugt eine neue Form von Glaubwürdigkeit: Ein Gefühl gilt als „echt“, wenn es sich in Bildsprache, Interaktionscodes und algorithmisch belohnte Ausdrucksformen übertragen lässt. Vor diesem Hintergrund lässt sich von einer emotionalen Performanz sprechen: Gefühle werden stilisiert, quantifiziert und algorithmisch verstärkt. Dies geschieht nicht, weil sie stärker empfunden werden, sondern weil sie vermehrt sichtbar gemacht werden.

Die Externalisierung des inneren Selbst

Die Vorstellung, dass das Selbst Ausdruck eines inneren Zustands sei, bleibt in digitalen Bildkulturen erhalten, wird aber zugleich in visuelle Strukturen übersetzt, die den ästhetischen Routinen von Plattformen wie Instagram, BeReal oder TikTok, den Logiken algorithmischer Sortierung und den kulturell geteilten Erwartungshaltungen an Sichtbarkeit und Ausdruck entsprechen. Es entstehen Bildwelten, in denen bestimmte visuelle Codes – etwa für Natürlichkeit, Selbstvertrauen oder Lebensfreude – zirkulieren. Diese Codes werden von den Nutzerinnen und Nutzern nicht nur reproduziert, sondern gezielt ästhetisch umgesetzt: Lebensfreude wird inszeniert, gestaltet oder sichtbar gemacht, zum Beispiel mithilfe von Mimik, Gestik, Licht, Farbwahl und Körperhaltung. Entscheidend ist, dass diese Darstellungen in vielen Fällen unabhängig vom subjektiven Erleben entstehen: Sichtbar wird nicht das tatsächliche Gefühl, sondern eine bildlich einstudierte Version davon, die kulturell als Zeichen innerer Stimmigkeit gilt. Auf diese Weise entsteht ein tiefer Bruch zwischen inneren Zuständen und äußeren Bildern – ein Bruch, der nicht nur Wahrnehmung und Kommunikation verändert, sondern auch die Selbstverhältnisse der Akteurinnen und Akteure nachhaltig irritieren kann.

Atlantas Analyse in Pixel Flesh zeigt exemplarisch, wie sich diese Dynamik besonders in der Lebenswelt junger Frauen manifestiert: Um in der Selbstdarstellung auf digitalen Plattformen ein visuell glaubwürdiges Bild von Natürlichkeit, Vitalität, Authentizität oder Schönheit zu erzeugen, werden Bedürfnisse wie ausreichende Nahrungsaufnahme unterdrückt, Schlafpositionen so gewählt, dass etwa Frisuren nicht beschädigt werden, und Körper gezielt geformt. Die veröffentlichten Bilder suggerieren das Erleben von Freiheit und Schönheit. Was darauf tatsächlich sichtbar wird, ist jedoch weniger gelebte Freiheit als eine rigorose Form der Selbstdisziplinierung und -überwachung, die sich tief in Körper und Selbstwahrnehmung einschreibt (Atlanta 2024).

Digitale Bildkulturen als religionsanaloge Formationen

Was wir also in digitalen Bildkulturen beobachten, ist keine oberflächliche Modeerscheinung, sondern Ausdruck tiefgreifender Strukturverschiebungen im Verhältnis von Selbst, Sichtbarkeit und sozialer Ordnung. Die ikonischen Bildwelten, die auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder BeReal präsentiert werden, funktionieren als religionsanaloge Formationen: Sie beruhen auf kulturellen Prämissen, die nicht empirisch verifizierbar sind, die aber dennoch eine ordnende, verpflichtende und orientierende Funktion übernehmen – ähnlich wie Religionen. Ihre Wirksamkeit liegt gerade darin, dass sie nicht als Religion erkannt werden, sondern als erstrebenswerter Ausdruck von Alltag oder Lifestyle gelten.

Diese Bildwelten definieren mit hoher ästhetischer Präzision, was als lebensfroh, schön, glaubwürdig oder attraktiv zu gelten hat – unabhängig davon, ob entsprechende Zustände subjektiv erlebt oder empfunden werden. In der konkreten Praxis bedeutet das: Nutzerinnen und Nutzer passen ihre Selbstinszenierung an visuelle Codes an, die durch Algorithmen verstärkt und über soziale Resonanz legitimiert werden. So entstehen Formen der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung, die nicht auf individueller Erfahrung, sondern auf normierten Bildlogiken beruhen. Dieser Prozess wirkt zunehmend in alltägliche Lebenswelten hinein und gestaltet Wahrnehmung, Ausdruck und Selbstverhältnis auf subtile Weise mit – oft, ohne dass es möglich ist, sich dieser Einflussnahme vollständig zu entziehen.

Die neuen Bildwelten knüpfen an religionsgeschichtliche Strukturen an, vor allem an die Funktion von Göttinnenbildern. Schon dort dient der weibliche Körper nicht der Darstellung realer Subjekte; vielmehr wird er zur Projektionsfläche für Wünsche, Ordnungsvorstellungen und soziale Normen. Die Bilder versprechen Sinn und Orientierung und erfüllen gleichzeitig eine Kontrollfunktion, indem sie keine konkreten Frauen zeigen, sondern abstrakte Ideale. Im Zentrum steht dabei weniger die Frage nach weiblicher Selbstbestimmung oder danach, was Frauen selbst wollen oder brauchen. Vielmehr geht es um ein Bild, das dazu dient, weibliche Körper zu disziplinieren und zu beherrschen – und zwar sowohl durch Männer als auch durch Frauen. Auch die digitalen Idealbilder sind in dieser Tradition zu sehen. Sie bilden keine realen Lebenswelten ab, sondern spiegeln und verstärken patriarchale Normen wie die Erwartung, dass Frauen sich makellos, kontrolliert und gefügig präsentieren.

Fazit

Die beschriebenen Entwicklungen haben Konsequenzen für die Konzeption des Selbst. Was wir hier sehen, ist keine Auslöschung des Inneren, denn Gefühle oder Wünsche bestehen weiter. Es handelt sich aber wohl um eine Verschiebung ihrer kulturellen Relevanz, da nicht mehr das Erleben selbst, sondern dessen Sichtbarmachung zum Maßstab von Bedeutung erhoben wird. Was an inneren Empfindungen vorhanden ist, wird von Bildsprachen überlagert, die Sichtbarkeit, algorithmische Lesbarkeit und Anschlussfähigkeit an kulturell etablierte Ausdrucksformen und ästhetische Erwartungen priorisieren. Zugleich stellt sich eine zweite, grundlegendere Frage. Wenn das, was Menschen als ihr inneres Selbst empfinden, so sehr es kulturell geprägt ist, nur noch unter bestimmten visuellen, medialen und algorithmisch strukturierten Bedingungen Resonanz findet, welche Formen von Beziehungen werden dann möglich? Und welche gehen verloren? Digitale Bildwelten ermöglichen Beziehungen zu Maschinen, zu Systemen, zu Plattformen, aber sie erschweren die Beziehung zu anderen Menschen jenseits des digitalen Raumes. Die neuen ikonischen Welten stehen damit exemplarisch für eine disruptive Transformation: die Verschiebung von zwischenmenschlichen zu maschinell vermittelten Beziehungen.

Literatur

Atlanta, Ellen. 2024. Pixel Flesh. How Toxic Beauty Culture Harms Women. Headline Publishing Group.

Harari, Yuval Noah. 2017. Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. C.H. Beck.

Heelas, Paul. 1996. The New Age Movement. The Celebration of the Self and the Sacralization of Modernity. Blackwell.

Illouz, Eva. 2024. Explosive Moderne. Übersetzt von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag.

Lasch, Christopher. 1979. The Culture of Narcissism: American Life in an Age of Diminishing Expectations. W. W. Norton & Company.

Rieff, Philip. 1987. The Triumph of the Therapeutic: Uses of Faith After Freud. University of Chicago Press.

Taylor, Charles. 1989. Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Harvard University Press.